Verfahrenswahl zur Lösung von Streitigkeiten in Bausachen

Die AHO-Schrift Nr. 37[1] enthält unter Ziffer 4.3 Kriterien für die Auswahl eines geeigneten Verfahrens, zunächst unabhängig vom konkreten Konflikt, sodann abhängig vom konkreten Konflikt und abschließend mit einem konkreten Beispiel in einem zweistufigen Verfahren. In der ersten Stufe sollen die Verfahren ausgeschlossen werden, die aus der Sichtweise der Beteiligten grundsätzlich nicht infrage kommen. In der zweiten Stufe wird eine Entscheidung unter den verbliebenen Verfahren anhand einer Nutzwertanalyse für die Kriterien Verfahrensdauer und Verfahrenskosten herbeigeführt.

Ergänzend dazu existieren digitale Auswahlprogramme als Konfliktnavigator oder Verfahrensfinder. Ein Beispiel ist das DiReCT[2] des RTMKM[3], bei dem zunächst in einer Stufe 1 durch vier Fragen abgeklärt wird, ob ein Präzedenzfall geschaffen werden soll, einstweiliger Rechtsschutz benötigt wird, bestehende Beweismittel gesichert werden sollen oder gesetzliche Ausschlussfristen zu beachten sind mit entsprechendem Verweis auf die staatliche Gerichtsbarkeit oder die Schiedsgerichtsbarkeit.

In einer Stufe 2 sind 12 Fragen im Multiple Choice-Verfahren zu beantworten. In einer Stufe 3 sind diejenigen Fragen anzukreuzen, die für die Verfahrenswahl besonders wichtig erscheinen. In Stufe 4 folgt das Ergebnis einer Verfahrensempfehlung mit fallender Reihenfolge der Punkte von max. 10 (besonders gut geeignet) bis min. 0 (völlig ungeeignet) für 14 verschiedene Verfahren. Der Algorithmus für diese Verfahrensempfehlung ist nicht ersichtlich. Die DGA-Bau konzentriert sich bei den ADR-Verfahren auf die sog. „Big Five“ (Mediation, Schlichtung, Adjudikation, Schiedsgutachten und Schiedsgericht).

Ein weiteres Beispiel ist das Ponschab + Partner Konfliktscreening.[4] Dabei werden dem Teilnehmer 18 Fragen gestellt, die wiederum im Multiple Choice-Verfahren zu beantworten sind. Als Ergebnis wird wiederum eine Tabelle mit fallenden Punkten für die Verfahren Verhandlung, Mediation, Schlichtung, Schiedsgutachten, Schiedsgericht und Gerichtsverfahren ausgegeben sowie zusätzlich ein Spinnennetz mit den erreichten Prozentpunkten zwischen 0 und 100. Der Algorithmus für die erreichten Punkte ist ebenfalls nicht ersichtlich.

Schüpfer hat in seiner Masterarbeit[5] einen Leitfaden zur Verfahrenswahl aus den Big Five mit sechs parallel zu betrachtenden Entscheidungsbäumen zu Fragekomplexen entwickelt, u. a. Verfahrensziel, Bindungswirkung, Detaillierungstiefe und Lösungsfrist. Schüpfer macht die Besonderheiten der Big Five und die bei der Wahl des passenden Verfahrens zu beachtenden Kriterien bewusst und setzt sie in Bezug zueinander. Eine Digitalisierung des Leitfadens steht aus.

Aus dieser Übersicht werden folgende Schlussfolgerungen gezogen:

Zielsetzung der DGA-Bau ist es, die Anzahl der gerichtlichen Verfahren über Streitigkeiten in Bausachen zu reduzieren. Vor der Wahl eines ADR-Verfahrens ist daher zunächst zu klären, ob es wichtige Gründe für ein Gerichtsverfahren gibt wie Schaffen eines Präzedenzfalls oder Benötigung eines Urteils aus Verantwortungs- oder Rechtfertigungsgründen unter Verzicht auf Vertraulichkeit, Pflege der Geschäftsbeziehungen, Kosten- und Zeiteinsparungen.

Können sich die Parteien grundsätzlich auf ADR-Verfahren verständigen, so ist zu klären, ob sie die vertraglichen Regelungen untereinander sowie mit einem Streitlöser (SL) oder Streitlösergremium (SLG) projektbegleitend für Planung und Ausführung von Anfang an oder erst im Konfliktfall (ad hoc) vereinbaren wollen. Es hat sich gezeigt, dass projektbegleitende Vereinbarungen dazu führen, dass die Vertragsparteien einen verstärkten Anreiz darin sehen, möglichst keinen Konflikt an den SL oder das SLG heranzutragen und damit Streit vermeidend wirken. Für die vertraglichen Regelungen ist es erforderlich, dass sich die Vertragsparteien bereits auf ein Verfahren einigen. Allein durch die Vereinbarungen zeigen sie, dass sie Konsens geneigt sind. Daher werden sie vorrangig die Schlichtung (mit Schlichterempfehlung oder verbindlichem Schlichterspruch) oder auch die Adjudikation wählen. Die Mediation scheidet vor allem deswegen aus, weil die Parteien den baubetrieblichen oder / und baurechtlichen Sachverstand des SL oder SGL einbezogen wissen wollen. Das Schiedsgutachten setzt bereits einen Konfliktfall mit konkreten baubetrieblichen oder baurechtlichen Sachfragen voraus. Das Schiedsgericht kommt nur für komplexe Streitfälle mit sehr hohen Streitwerten in Betracht.

Ergänzend ist sehr zu empfehlen, dass die Parteien für projektbegleitende Vereinbarungen nicht nur das Verfahren, sondern auch den SL oder das SGL festlegen. Andernfalls entstehen im auftretenden Konfliktfall vermeidbare Zeitverzögerungen durch dessen oder deren Auswahl und vertragliche Bindung. Hilfestellung für die ADR-Vereinbarungen bieten die seitens der DGA-Bau, aber auch der DGfB[6] mit der SL Bau, der DIS[7] mit Musterklauseln, der ARGE Baurecht[8] mit der SO Bau im Internet zur Verfügung stehenden Vertragsmuster.

Damit reduziert sich das Problem der Verfahrenswahl auf diejenigen Parteien, die weder das Gerichtsverfahren noch projektbegleitende ADR-Vereinbarungen wählen, sondern erst im Konfliktfall (ad hoc) eine Auswahlentscheidung treffen wollen. Für diese gilt eine weitere Abgrenzung. Sind sie bei geringem Eskalationsgrad eher Konsens geneigt und wollen ihre Autonomie und Eigenverantwortlichkeit bewahren, so kommen die Mediation und die Schlichtung mit Schlichterempfehlung in Betracht. Sind sie dagegen kontradiktorisch eingestellt, so benötigen sie einen Schlichterspruch oder auch bei der Notwendigkeit schneller vorläufig verbindlicher Entscheidung eine Adjudikation, bei klar abgrenzbaren Sachverhalten ein Schiedsgutachten und bei sehr komplexen Konflikten ein Schiedsgericht.

Ergänzend können zur Erhärtung der Auswahlentscheidung noch einige Fragen aus dem DiReCT, dem Ponschab-Konfliktscreening, der Masterarbeit von Schüpfer oder eigenen Überlegungen gestellt und beantwortet werden.

Die geringsten Verfahrenskosten entstehen im Allgemeinen bei der Mediation und der Schlichtung. Ein Machtgefälle zwischen den Parteien erfordert eher einen Schlichterspruch als eine Schlichterempfehlung. Zur Bindungswirkung und Durchsetzbarkeit von Vereinbarungen und Entscheidungen in ADR-Verfahren wird verwiesen auf Ziffer 4.5 der AHO-Schrift Nr. 37.

Die Sachkenntnis des SL oder des SLG ist eine Frage nach deren Qualifikation und nicht des Auswahlverfahrens. Zu fordern sind Fach-, Verfahrens- und Sozialkompetenz, Unabhängigkeit, Neutralität, zeitliche Verfügbarkeit und Akzeptanz durch die konfliktbeteiligten Parteien.

Mit dieser Vorgehensweise bei der Verfahrenswahl können die Parteien in den meisten Fällen rasch zu einer Entscheidung gelangen. Ein Wechsel im Sinne einer Kaskade, z. B. von der Mediation zur Schlichtung, ist nur in seltenen Fällen erforderlich. Die Lösung des Problems der Verfahrenswahl ist damit in der Regel einfacher als von vielen Parteien angenommen.

Eichenau, 19. August 2021

Prof. Dr.-Ing. Claus Jürgen Diederichs

> Verfahrensfinder


[1]AHO-Schrift Nr. 37 (März 2018) Konfliktmanagement in der Bau- und Immobilienwirtschaft, Bundesanzeiger Verlag, Köln

[2] DiReCT Dispute Resolution Comparison Tool

[3] RTMKM Round Table Mediation und Konfliktmanagement der deutschen Wirtschaft (www.rtmkm.de)

[4] Ponschab + Partner Konfliktscreening (www.ponschab-partner.jimdofree.com/konfliktscreening)

[5] Schüpfer, L. (2019) Masterarbeit „Außergerichtliche Konfliktbewältigung bei Bauprojekten – Entwicklung eines Leitfadens zur Verfahrenswahl“, Prof. M. Sundermeier, TU Berlin

[6] DGfB Deutsche Gesellschaft für Baurecht

[7] DIS Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit

[8] ARGE Baurecht im Deutschen Anwaltverein