1. Außergerichtliche Streitlösung ohne Dritte

1.2 Interessenorientiertes Verhandeln
(Harvard-Konzept)

a) Verfahrensbeschreibung

Beim Verfahren des interessorientierten Verhandelns liegt der Schwerpunkt der Verhandlungen auf den Interessen und Bedürfnissen der Parteien und nicht wie üblich auf deren Positionen bzw. Forderungen. Um dies zu erreichen, folgt die interessenorientierte Verhandlung einer kooperativen Ablaufstruktur. Nach einer Eröffnungsphase, in der ein „Arbeitsvertrag“ erstellt wird, der die nachfolgenden Phasen regelt, folgt eine Phase, in der die im Raum stehenden Konfliktthemen / -punkte gesammelt und präzisiert werden. Anschließend wird der Sachverhalt gemeinsam aufgeklärt. Bevor dann Lösungen zur Ausräumung der Konflikte gesucht werden, werden die wirtschaftlichen und persönlichen Interessen der Parteien ermittelt, die mit der Konfliktlösung erreicht werden sollen. Liegen die Lösungsoptionen auf dem Tisch, werden diese anhand objektiver, legitimer, normativer Kriterien, die vom Willen der Parteien getragen werden und für alle Parteien gültig und verbindlich sind, bewertet und mit den besten Nichteinigungsalternaiven verglichen, bevor die Verhandlungen zu einem positiven oder negativen Abschluss führen.

Das interessenorientierte Verhandeln verfolgt das Ziel, nach einer Trennung der Sachebene von der Beziehungsebene, d.h. von Mensch und Problem sowie der Interessen von den Positionen, möglichst viele Einigungsoptionen zu kreieren, die möglichst alle, jedenfalls viele Interessen der Parteien berücksichtigen.

Als Stärken des interessenorientierten Verhandelns werden u.a. der Erhalt der Kontrolle über den Verhandlungsprozess und das Verhandlungsergebnis durch die Parteien und die i. d. R. schnelle Durchführung (binnen weniger Wochen) hervorgehoben. Weitere positive Aspekte sind niedrige Kosten, die Wahrung der Reputation ohne Gesichtsverlust und eine Stärkung der Geschäftsbeziehung durch die erreichten Ergebnisse.

Als wesentliche Schwäche des interessenorientierten Verhandelns wird die durch eigenes, regelmäßig wertorientiertes Verhandeln ausgelöste Zurückhaltung bei der Offenlegung der Interessen genannt, weil jede Partei annimmt, die jeweils andere werde die Offenheit der einen Partei zu Gunsten der anderen Partei ausnutzen. Dies wiederum führt dazu, dass die meisten erreichten Lösungsoptionen entweder noch weit von den realisierbaren Potenzialen entfernt sind oder aber die Verhandlungen scheitern. Erfahrungsgemäß verhindert auch eine aufgrund bereits fortgeschrittener Eskalation hervorgerufene verzerrte Wahrnehmung häufig eine Korrektur oder Erweiterung der Verhandlungsthemen. Schließlich gibt es häufig Schwierigkeiten bei der Festlegung der Kriterien für die Quotierung materieller Rechtsansprüche im Hinblick auf Kosten und Termine, da es vielfach keine objektiven, sondern nur legitime und normative Kriterien gibt.

In der Abgrenzung zu anderen Verfahren außergerichtlicher Streitbeilegung unterstützt kein Dritter die Verhandlungen zur Konfliktbeilegung durch seine unverbindliche Einschätzung der Sach- und/oder Rechtslage. Das interessenorientierte Verhandeln ist ein selbstbestimmtes Verfahren der Parteien ohne einen Dritten.